Das Wort für heute: Abdecker
23. Mai 2013
Abdecker, der
auch Kaltschlächter, Wasenmeister, Schäler und sonst noch was genannt. In amtlichen Schriftstücken hieß er zuweilen „ungenannter Mann“. Im Unterschied zum Scharfrichter, der sich Meister nennen durfte, war er der Halbmeister. Gegen die Bezeichnung Schinder konnte er eine Beleidigungsklage anstrengen, und das Gericht gab ihm Recht.
Der Abdecker holte ab, fing ein, lederte ab, zerlegte, kochte, verfütterte, verbrannte und vergrub. Was? Kadaver. Er legte Luder in Wolfsfallen aus, fing herrenlose Hunde und Katzen ein, um sie vier Tage später zu erschlagen, zog aber auch die herrschaftlichen Jagdhunde auf und sorgte für die Gesundheit der Hundemeuten. Mit gekochtem Fett, aber auch mit rohem Fleisch mästete er Schweine, was ihm mancherorts verboten war.
Er verwertete alles, was das verendete Tier hergab: Klauen, Knochen, Zähne, Hufe, Felle, Borsten, Haut und Haar. Das verfaulte Fleisch ging an Salpetersieder, Fett und Knochen an Lichterzieher, Seifen- und Leimsieder. Aus Fett, Knochen und Sehnen entstanden Talg für Unschlittkerzen, Fette, Leim, Knochenmehl, Salmiak, Seife, Bleichmittel und Viehfutter. Er lieferte das Ausgangsmaterial für Löscheimer, Hundeleder, das war begehrt als Handschuhleder, und Hundefett zum Salben.
„Etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden dann die Knochen zu Dünger oder zu Beinschwarz, Hufe und Hörner zu Berlinerblau verarbeitet. Blut wurde gekocht, der feste Teil getrocknet, zu Pulver gemahlen und als Dünger in den Handel gebracht. Die Felle wurden gewässert, mit Salz bestreut und zum Trocknen aufgehängt oder ausgebreitet um dann an einen Lohgerber verkauft zu werden.“ Das fand Marita Genesis für ihre Magisterarbeit an der Technischen Universität Potsdam heraus.
Der Zulassung zum Abdecker war das Bestehen einer Prüfung vorausgesetzt, analog zur Bestellung des Scharfrichters, der, da sein Beruf nicht leicht ein auskömmliches Leben ermöglichte, häufig Abdeckereien im Nebenerwerb betrieb. Allerdings durfte sich der Scharfrichter nicht unbedingt selbst die Finger am verendeten Vieh schmutzig machen. Seit 1729 verordnet ein preußisches Gesetz, „nur ausgebildete Scharfrichter, die sich niemals persönlich mit der Abdeckerei abgegeben haben“ dürften sich „unterstehen, mit dem Schwert zu richten“.
Des Halbmeisters Arbeitsplätze waren neben der Abdeckerei und der Straße der Schindanger und, da er häufig Pächter der Abdeckereigerechtigkeit des Scharfrichters und dessen Mitarbeiter war, der Galgenberg. Sein Anwesen verbreitete pestilenzische Gerüche, deshalb wurden Abdeckereien immer wieder vor die Grenzen der Stadt verlegt, in Berlin zum Beispiel 1724 vom Nikolaiviertel vor die nördlichen Tore der Stadt, neben das spätere Voigtland. Bis 1823 war die Berliner Abdeckerei mit ihrer Ludergrube in der Invalidenstraße (die Teil des Spandauer Heerweges war und erst ab 1800 so hieß) in Betrieb, was zu Beschwerden von Reisenden führte, die auf der alten Hamburger Poststraße (der heutigen Chausseestraße) unterwegs waren und denen der einschlägige Gestank unfein in die Nase wehte.
Das Grundstück an der Invalidenstraße wurde für den Bau des Stettiner Bahnhofs in Anspruch genommen, der Abdecker, der bis 1940 hier immer noch seine Wohnung hatte, zog weiter, zunächst in die Chausseestraße und dann mit seinem gesamten Betrieb auf den Wedding, immer weiter hinaus vor die Stadt. In der Müllerstraße 81 fand die Berliner Abdeckerei schließlich ihren letzten Standort, bis die Eröffnung der Kadaververnichtungs- und -verwertungsanstalt in Rüdnitz bei Bernau, die nach mehr als einjähriger Bauzeit im Mai 1908 ihren Betrieb aufnahm, ihr unwiderrufliches Ende bedeutete.
Anfang des 19. Jahrhunderts wurde das privilegierte Abdeckereiwesen zum freien Gewerbe erklärt, gleichzeitig wurden die Abdecker ehrlichgesprochen, als letzte Berufsgruppe, fast hundert Jahre nach den Scharfrichtern. Viele Abdecker, deren tariflich geregelte Einkünfte ebensowenig wie ihr Anwesen mit Steuern belegt waren, betätigten sich nicht erst nach der Aufhebung ihrer Privilegien als Tierärzte.
1716 verfasste der Scharfrichter Johannes Deigendesch sein veterinärmedizinisches Lehrbuch mit dem Titel „Nachrichters nuezliches und aufrichtiges Pferd- oder Roßarzneybuch“, in dem sich alles über die Behandlung von Pferde- und (im Anhang einige) Rinderkrankheiten findet, Krankheiten wie Herzschlechtigkeit, nasser Husten, Räude oder Wurmbeißen. Es erlebte mehrere Auflagen, immer wieder verbessert und zum Beispiel „vermehrt um das Fiebern und den Rotz der Tiere“, wie der Verleger Johann Georg Cotta aus Tübingen 1752 anzukündigen weiß. Die detailliert angewiesenen Zubereitungen von Pulvern und Latwergen lassen an die traditionelle chinesische Medizin denken und gereichten jedem zeitgenössischen Apotheker zur Ehre, deren Läden übrigens ebenfalls außerhalb der Akzisemauer angesiedelt waren.
Die Rezepturen enthalten alles, was die Natur hergibt – und mehr: Dachsenschmalz und Brandtenwein, Galläpfel und Zucker, Holderwasser und Schwalbenöl, Kammfett, Bleiweiß, Mastix, Weyrauch. Geißmilch und Tormentill. Schwarzen Schwefel, langen Pfeffer, Schießpulver und Honig. Lorbeer, Grünspan, Vitriol. Nachtschattenwasser, Drachenblut, gebrannte Hundsköpf und Teufelskot. Seifensiederlauge, Salpeter und Schwefelblumen, Pomeranzenschale und Küchensalz, Essig und Nägelein, Safran, in Scrupeln gemessen, und Bubenurin in halben Schoppen. Kupferwasser findet ebenso seine Verwendung wie „geschabene venedische Seiffen“, Kaminruß und Odermennig. Nur Armsünderfett ist offenbar zu kostbar für das Vieh und bleibt dem Menschen vorbehalten.
Im Allgemeinen befassen sich Scharfrichter mit der Heilkunst am Menschen (in Konkurrenz zu und angefeindet von den Badern und studierten Ärzten), die Abdecker mit Tiermedizin. Sowohl beim Zerlegen von Kadavern als auch beim Foltern (auch diese Arbeit wurde gelegentlich vom Nachrichter an den Abdecker delegiert) eignet man sich eben zwangsläufig anatomische Kenntnisse an.
Die gefährlichste, fast immer tödliche Berufskrankheit der Abdecker war der Milzbrand. Auch Hirten, Gerber, Kürschner, Fellpflücker, die sich nicht auf die Häute geschlachteter Tiere beschränkten, aber auch Fleischer liefen verstärkt Gefahr, sich mit dem Milzbrandbazillus zu infizieren, der selbst nach hundert Jahren noch in kontaminierten Böden virulent ist. Im Jahr 2010 tauchte erstmals anthraxverseuchtes Heroin auf und forderte Todesopfer in Schottland und Deutschland. 2012 gab es einen weiteren Fall in der Gegend von Regensburg. Ebenfalls 2012 wurden Milzbrandfälle bei einer Rinderherde in der Nähe von Stendal ruchbar.
Heute ist die Polizei für die Beseitigung von Tierkadavern zuständig.
Nachschrift: Ein gewisser Reinhard Riepl unterhält eine Datenbank mit über 90 000 Abdeckern, Scharfrichtern und Gerichtsdienern aus Deutschland und einigen Nachbarländern wie Südtirol, Österreich, Böhmen, Mähren, Schweiz, Elsaß, Luxemburg, Belgien, Holland, Lothringen, Schlesien (Polen) und Dänemark, aus der auch die überregionalen Verwandtschaftsverhältnisse hervorgehen.
23. Mai 2013 at 11:14
Ah, so viele tolle Worte nach langer Zeit. Muss ich gleich noch einmal lesen, um nur annähernd zu verstehen.
23. Mai 2013 at 11:25
Ja, ziemlich komprimiert und vom Hölzchen aufs Stöckchen springend.
23. Mai 2013 at 11:17
Welcome back!
23. Mai 2013 at 11:25
Danke!
23. Mai 2013 at 11:24
Oh, wie schön! Ein Einstieg in ein Labyrinth: was, zum Beispiel, ist Schwalbenöl? Und was Armsünderfett –? Ich sehe meine Nachmittagsarbeit in Gefahr.
(Faszinierende Schilderungen des Berufsstandes finden sich in den Büchern von James A. Wight, besser bekannt als James Herriot.)
23. Mai 2013 at 11:29
Armsünderfett ist Menschenfett, gewonnen aus Hingerichteten.
Was Schwalbenöl ist, weiß ich auch nicht, muss so was Ähnliches wie Regenwurmöl sein. Auch über Wachsöl wunderte ich mich, während sich Buch- und Rebaschenlauge nach anfänglichem Stutzen doch selbst erklären.
Danke für den Lesetipp!
23. Mai 2013 at 11:25
Drachenblut und Teufelskot haben es mir besonders angetan. Das Zeug muss ja helfen. Schön, von Dir zu lesen.
23. Mai 2013 at 11:31
Fragt sich nur, wie man drankommt. Stell dir vor, das Pferd ist kurz vorm Abnippeln, und Du findest keinen Teufelskoth auf die Schnelle.
23. Mai 2013 at 12:26
Man braucht sicher gute Beziehungen zur Hölle.
23. Mai 2013 at 11:59
So schön, dass Sie wieder schreiben…
In meinem Dorf gab es auch noch eine Abdeckerei. Aber wenn dort etwas zugange war, was uns Kinder natürlich interessiert hätte, wurden alle Schotten dicht gemacht.
Der Text ist auch ein herrlicher Exkurs auf der Suche (und beim Finden) verloren gegangener Wörter.
P.S. Während Ihrer Schreibpause wurden mindestens vier Suppenhühner à la Evenaar verarbeitet.
23. Mai 2013 at 12:06
O wie schön, eine unbekannte Leserin! Und dann noch Einfachst-Hühnerbrühe-Fan. Ich freue mich.
23. Mai 2013 at 13:28
Der Hinweis auf das Buch von Johann(es) Deigendesch läßt mein Alchemisten-Herz höher schlagen. Aber selbst wenn ich das Buch hätte (eine Ausgabe von 1786 wird bei ZVAB.com für schlappe 240 € angeboten). Einige Rezepte sind aber auch im Netz zu finden: google books
So, auf zur Suche der Ingredienzien!
23. Mai 2013 at 13:29
Und was ich noch sagen wollte: Vielen Dank für das Wort für heute heute!
23. Mai 2013 at 13:37
Lieber Philipp, alle Rezepte sind da abgedruckt; danke für den Link. Es ist die Auflage von 1771 des Originals von 1716 mit mindestens den Erweiterungen von 1752. Und ich hatte Euch den Link vorenthalten!
23. Mai 2013 at 13:39
Viele der Ingredienzien findet man zum Glück auch auf Wiesen, Feldrainen, im eigenen Gärtlein oder auf dem Fensterbrett.
23. Mai 2013 at 13:42
Ja, das stimmt. Die Ingredienzien gibt es an vielen Stellen, nur muß man zunächst einige Namen in die heute gebräuchlichen übertragen, um zu verstehen, um welche Pflanze oder Chemikalie es sich handelt.
23. Mai 2013 at 13:59
Beim Ausprobieren der Links fiel mir auf, dass Herr Deigendesch mindestens zweimal mit seinem Roßarzneybuch im Netz vertreten ist. Ich hatte mich in der Ausgabe von 1809 festgelesen, die aber offenbar gegenüber der von 1771 unverändert ist – bis auf ein paar Dekoelemente.
23. Mai 2013 at 14:30
Schön, dass Du wieder schreibst, ich hatte mir schon Gedanken gemacht.
23. Mai 2013 at 14:31
Ich werde es im Urlaub dann richtig lesen ….
23. Mai 2013 at 14:46
Einen wunderschönen Urlaub wünsche ich Dir.
Vielleicht kommt ja auch wieder mehr.
23. Mai 2013 at 15:12
Schön, dass Du wieder da bist und gleich so wort-reich interessant.
23. Mai 2013 at 15:14
Ach, danke auch Dir für das Willkommen. Es ist schön, so viele treue LeserInnen zu haben, die einen vermissen.
23. Mai 2013 at 15:58
Danke, endlich durfte ich wieder „ein“ Wort von Dir lesen. Ein Scharfrichter der heilt war mir nicht bekannt. Sehr stimmungsvolle Eindrücke vom Leben und vom Tod.
23. Mai 2013 at 16:01
Schön, dass Du vorbeigeflogen kommst, schließlich bist Du ja weder Krähe noch Geier noch sonst ein Totenvogel.
23. Mai 2013 at 18:43
Oh, wie wunderbar, ein neuer Beitrag… und so ein spannender!
Im übrigen hat Frau Genesis auch ihre Dissertation über diesen „Dunstkreis“ geschrieben, am 21.6., 18 Uhr hält sie bei der Landesgeschichtlichen Vereinigung für die Mark Brandenburg einen Vortrag dazu.
23. Mai 2013 at 18:47
Interessant! Und ziemlich verrückt, dass Du Frau Genesis kennst. So klein die Welt.
23. Mai 2013 at 19:36
Ich tummele mich gerade randlich in ähnlichen Gefilden ;-)
23. Mai 2013 at 19:37
Kommst du? Ich lasse dir gerne die Koordinaten zukommen…
24. Mai 2013 at 08:42
Mal sehen, ob ich kann, interessiert bin ich auf jeden Fall.
Und, Du, pass auf, wenn Du in zweifelhafter Erde gräbst!
23. Mai 2013 at 19:34
Von einem „Wort für heute“ kann ja eigentlich nicht die Rede sein, es handelt sich vielmehr um ein ganzes Wörterbuch.
24. Mai 2013 at 08:41
Manche Wörter treten eben in Schwärmen auf, und einmal eingefangen sind sie schwer wieder loszuwerden.
19. August 2014 at 15:53
Ein sehr interessantes Artikel. Vielleicht ist meine Blog über die geschichte der Kadaververwertung eine Ergänzung.
Sie finden das auf http://historyofdestructieoranimalrendering.com/