Das Wort für heute: spannenlang
14. September 2009
spannenlang.
In der Kritik der Abenteuer-Ideologie meines geschätzten Lehrers Michael Nerlich lernte ich unter anderem, dass die europäische Moderne recht früh, nämlich spätestens im 12. Jahrhundert unserer Zeitrechnung begann und dass das Mittelalter kein finsteres war.
Das lag nicht zuletzt am immer verbindlicheren Messen und Wiegen und an den fortan überall, wo Markt war, öffentlich angebrachten Längen- und Hohlmaßen. Die Normierungsbestrebungen nahmen zu, Maße wurden in Übersichten erfasst, der Skrupellosigkeit der Apotheker wurde Abhilfe geschaffen, der Handel blühte und die bürgerliche Bewusstseinsbildung nahm ihren Lauf. Zwar blieben die Händler unterwegs noch lange unversichert und auf gefährlichen Wegen dem wahren Abenteuer ausgesetzt, zu Hause aber konnten sie umso unbeschadeter messen, wiegen, ihre Erträge zählen und sich auf der sicheren Seite fühlen.
Wenigstens in ihrer Heimatstadt und was die Zählmaße angeht. Denn während ein Schock unmissverständlich und unverhandelbar 60 zählt und ein Großhundert 144, beginnt die Diskussion einschließlich heftiger Betrugsvorwürfe bis hin zu Keilereien schon, wenn sich ein Aachener und ein Augsburger über die Länge oder das Raummaß einigen sollen.
Ellenlang, fußtief, schrittweit, handbreit … Wessen Elle, wessen Fuß, wessen Hand und wessen Spann nehmen wir denn nun, um das Leinen abzumessen, die Reeperbahn zu bestücken, die Seekarte zu beziffern? Bei der Handbreit Wasser unter dem Kiel kommt es nicht so sehr drauf an, Hauptsache es ist irgendeine Handbreit, beim Zoll schon eher. Apropos Zoll, das Zollpfund ist ein höchstamtliches, nur, wo wiegt es wieviel? Und wer erhebt den Zoll? Das Maß als Maß? Wie verbindlich ist es wo? Nehmen wir die Wiesenmass auf dem Oktoberfest, sie sollte ein Kilo wiegen bzw. ein ganzer Liter sein, ach was, da schau mal hinein in deinen Masskrug!
Doch bevor die Mass überhaupt ein Liter wurde, musste so allerhand geschehen. Mindestens musste die französische Revolution die Monarchie stürzen, ehe die Nationalversammlung in Frankreich die von Gebiet zu Gebiet unterschiedlichen Maßsysteme abschaffte und das metrische System einführte. Im zersplitterten Deutschland dauerte es noch einmal fast hundert Jahre länger, naja, nicht ganz.
Erst nach 1875 konnte der Eichmeister in weiteren 16 Staaten davon ausgehen, dass das Meter der zehnmillionste Teil der Entfernung vom Pol zum Äquator ist und der Liter ein Kilogramm Wasser bei 4 Gard Celsius aufwiegt. Doch der Prozess ist keineswegs abgeschlossen, noch heute sind Seekarten meter- oder fuß- und fadentief zu haben, die Meile kann weiß Gott wie weit reichen, und das Pfund in meinem Cheesecake-Rezept reicht immer noch aus, wenn ich nicht mehr genug Quark für Omas Käsekuchen habe.
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14. September 2009 at 16:06
nudeldicke Dirn
14. September 2009 at 16:21
… schütteln wir die Birn?
14. September 2009 at 20:15
spannend lang
14. September 2009 at 23:25
:)
14. September 2009 at 23:51
It takes much longer than a microfortnight to read.
15. September 2009 at 00:11
Mir scheint, da outet sich jemand als ein vorfristiger Nerd.
15. September 2009 at 08:34
Leider hat die Skrupellosigkeit der Apotheker wieder zugenommen. Die brauchen dafür gar nicht keine Maße.
Im Übrigen hast du mir einen wunderbaren Ohrwurm verschafft. Danke.
15. September 2009 at 12:16
DER Michael Nerlich, der die Stendhal-Monographie geschrieben hat?
15. September 2009 at 18:43
Ja, der. Und der die Zeitschrift Lendemains herausgegeben hat. Und der über Tirant lo Blanc forscht (das habe ich aber nur zufällig mitbekommen, Schande über mich als ausgesprochenen Tirant-Fan). Und DU kennst den?
15. September 2009 at 13:41
Da hast Du aber ein Faß aufgemacht …
Nein, dessen Volumen spezifiziere ich nicht,
aber gebe dir und den anderen Lesern hier ein
paar Literaturhinweise (mal eben aus dem Regal
der Hausbibliothek mit den Nachschlagewerken
gegriffen):
1) Wolfgang Trapp:
Kleines Handbuch der Maße, Zahlen, Gewichte
und der Zeitrechnung;
Reclam Universalbibliothek 8737
Stuttgart: Reclam, 1992
[sehr empfehlenswert; von Trapp es gibt auch ein
Bändchen bei Reclam zu Münzen und Währungen, was
sicher in mancher Hinsicht ein vergleichbares
Thema ist]
2) Donald Fenna:
Oxford Dictionary of Weights, Measures, and Units;
Oxford: Oxford University Press, 2003
3) Fritz Verdenhalven:
Alte Meß- und Währungssysteme
aus dem deutschen Sprachgebiet;
Neustadt an der Aisch: Verlag Degener & Co, 1993
Wer sich mit dem Thema irgendwie auseinandersetzt,
sollte den Trapp bei der Hand haben. Ich erinnere
mich vage, außer der mir hier vorliegenden typischen
gelben Reclamausgabe auch andere Ausgaben gesehen
zu haben.
Man sei aber gewarnt: Alle diese Quellen können
nur Anhaltspunkte geben – die Vielfalt der Maße
ist überwältigend, und man darf vor allem nicht
vergessen, daß sich vor allem die körperbezogenen
Maße wie Elle oder Fuß sich im Laufe der Zeit
verändert haben. Man muß bei vielen Angaben nicht
nur fragen wo gemessen, sondern auch wann!
15. September 2009 at 18:44
Ich kann nur ein weiteres Mal sagen, auf dich kann man sich verlassen!
15. September 2009 at 16:43
Den Ohrwurm habe ich auch zu beklagen. Mit sämtlichen Strophen. »Und ich schlepp den Sack / mit den großen Birn!«
Jedenfalls, angesichts dieser Widerspenstigkeit allein des Raumes Konzepte wie »Intelligenz«, »Kreativität« oder auch nur »Leidensdruck« objektivieren zu wollen — vermessen!
16. September 2009 at 12:37
Manchmal hat es eben auch Vorteile überall nur die erste Strophe auswendig zu kennen.
15. September 2009 at 18:48
Wie wahr, wie vermessen.
Viele werden es nicht sein, die von sämtlichen Strophen gefoltert werden. Ihr dauert mich alle. Dabei habe ich nun wirklich alles dafür getan, von dem Ohrwurm abzulenken.
15. September 2009 at 18:48
Persönlich kennen ist zuviel gesagt. Aber als hochverliebter Stendhal-Fan kenne ich natürlich dessen Biografen.